Page 17 - Schiedsrichter-Zeitung
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Als der entscheidende Anruf kam, war Riem Hussein gerade bei der Arbeit, und zwar in voller Schutzkleidung. Zum Arbeitsbereich der promovierten Apothekerin gehört auch die Durch- führung von Corona-Testungen. Als Roberto Rosetti, der Vorsitzende der UEFA-Schiedsrichterkommission, sich per Videocall meldete, musste Riem Hussein zunächst einmal die Gesichtsmaske abnehmen, um erkannt zu werden. Die Nachricht, die Rosetti ihr über- brachte, war umso erfreulicher: Ihr wurde die Leitung des Endspiels der Women’s Champions League anver- traut.
Die 1980 in Bad Harzburg geborene Riem Hussein gehört zu den erfahrensten Referees im deutschen Fußball überhaupt. Im Jahr 2001 legte sie ihre Schiedsrichterprüfung ab, seinerzeit gemeinsam mit ihrem Bruder Amir. Der Entschluss, Schiedsrichterin zu werden, resultierte nicht zuletzt auch aus einer gewissen Unzufriedenheit: Hussein war selbst eine erfolgreiche Fußballspielerin, stürmte in der Saison 2004/2005 noch für den Zweitligisten MTV Wolfen- büttel, erzielte 18 Saisontore, war aber nicht immer einverstanden mit den Schiedsrichterleistungen. Das Ablegen der Prüfung hat ihren Blick auf das Spiel ver- ändert. Und bis heute ist ihren Spielleitungen anzu- merken, dass eine Praktikerin auf dem Platz steht, in der sich Spielverständnis, Fitness und Regelsicherheit vereinen.
Die Ansetzung für das Champions-League-Finale am 16. Mai im Ullevi-Stadion in Göteborg zwischen dem FC Chelsea und dem FC Barcelona kam für Riem Hus- sein, wie sie erzählt, ausgesprochen überraschend. Zwar war die deutsche Spitzenmannschaft Bayern München im Halbfinale ausgeschieden und somit der Weg frei für eine deutsche Schiedsrichterin, anderer- seits aber ist die Französin Stéphanie Frappart derzeit die Frau der Stunde im Schiedsrichterwesen – und auch ihre Ansetzung wäre möglich gewesen. „Umso mehr“, sagt Hussein, „habe ich mich gefreut und wert- geschätzt gefühlt.“
Die Vorbereitungen für die Partie begannen unmit- telbar nach der Ansetzung: Über das Taktikportal Wyscout sichtete Hussein die taktische Ausrichtung, Spielerinnentypen und Spielzüge beider Mann- schaften. Die Halbfinalspiele der Champions League hatte sie ohnehin verfolgt; weitere Spielanalysen folgten in den Tagen vor dem Finale. Als Assistentin- nen wurden Hussein die Hessin Katrin Rafalski und die Österreicherin Sara Telek zugeteilt. Bastian Dan- kert und Christian Dingert wurden als Video Assistant Referees (VAR) angesetzt. Über eine WhatsApp- Gruppe stand das Team bis zum Finaltag täglich im Austausch; hinzu kamen regelmäßige Abstimmungen per Telefon.
Riem Hussein spürte Vorfreude, aber keine Euphorie, denn: „Eine Ansetzung ist für mich zunächst eine Ver- pflichtung. Es ist das Spiel der Spiele, und es geht darum, dass ich es gut leite. Ein Erfolgsgefühl stellt sich bei mir immer erst danach ein. Zunächst bin ich in der Bringschuld.“ Die akribischen Vorbereitungen,
die Absprachen und die Konzentration auf den Punkt zeigten ihre Wirkung: Das gesamte Schiedsrichter- team brachte in einem fairen, aber schnellen und intensiven Spiel eine Leistung auf den Platz, die zu keinerlei Diskussionen Anlass bot. Ein Spiel im Übri- gen, das überraschenderweise spätestens nach 36 Minuten mit dem Treffer zum 4:0 für den FC Bar- celona bereits entschieden war.
KNIFFLIGE STRAFRAUM-SZENE WURDE RICHTIG GELÖST
Die deutsche Nationalspielerin Melanie Leupolz in Diensten des FC Chelsea spielte dabei eine beson- ders unglückliche Rolle: In der ersten Minute fabri- zierte sie ein kurioses Eigentor, zwölf Minuten später unterlief ihr im eigenen Strafraum ein Foulspiel, das Riem Hussein mit einem Strafstoß ahndete. Die Kata- laninnen verwandelten zum 2:0. Die mit Abstand kniffligste Entscheidung in der Partie, wie Hussein im Nachhinein bilanziert: „Ich musste“, so erzählt sie, „bewerten, ob das ein Foulspiel war, das in diesem Augenblick relevant und ahndungswürdig war. Das war im Nomalablauf und auch aus der Kameraper- spektive schwierig zu sehen.“
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Christoph Schröder
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  „Eine Ansetzung ist für mich
zunächst eine Verpflichtung.“
Riem Hussein, FIFA-Schiedsrichterin
Nach kurzer Überlegung entschied sie sich für den Pfiff und lag richtig. Auch die beiden deutschen VAR stuften die Entscheidung nach Sichtung der Bilder als korrekt ein und teilten ihre Einschätzung via Head- set mit. „Das hat mir zusätzlich Sicherheit gegeben“, so Hussein.
Die Proteste gegen die Entscheidung hielten sich ohnehin in Grenzen, wie überhaupt das Team nach dem Spiel kein Thema war. „Ich habe“, sagt Riem Hussein, „von Anfang an bei der Zweikampfbewer- tung eine großzügige Linie gefahren und das Spiel laufen lassen, und das wurde mir gedankt. Nach dem Spiel haben wir Applaus und den erhobenen Daumen auch vom unterlegenen Team des FC Chel- sea bekommen. Diese faire Geste hat uns sehr viel bedeutet.“ Und sie fügt mit feinem Humor hinzu: „Ich bin froh, dass ich auf dem Platz neben zwei interna- tionalen Spitzenteams nicht negativ aufgefallen bin.“ Ein Eindruck, dem sich auch der UEFA-Kommissions- vorsitzende Roberto Rosetti und die für den Frauen- bereich zuständige Dagmar Dankova bei einem Abendessen nach dem Spiel in Göteborg uneinge- schränkt anschlossen.
Und was kann jetzt noch kommen? „Ich bin gesund und fit“, sagt die Schiedsrichterin, „vielleicht komme ich ja bei den Olympischen Spielen in drei Jahren in die engere Wahl. Das wäre noch ein großes Ziel.“ Auch dort wäre sie, das ist sicher, eine glänzende Reprä- sentantin für das deutsche Schiedsrichterwesen.


















































































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