Page 32 - DFB-Schiedsrichterzeitung
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                D F B-S CH I E DS R I CH T E R -Z E IT U N G  0 4 | 2 0 2 0



                                                                     sich in ungebührlicher Weise Vorteile zu verschaffen und
                                                                     die Umpires hinters Licht zu führen.

                                                                     Ein weiterer Aspekt ließ die Notwendigkeit deutlich wer-
                                                                     den, dass das System des „Appeals“ reformiert werden
                                                                     musste. 1875 wurde beschlossen, „dass im Falle eines
                                                                     mutmaßlichen Verstoßes gegen die Regeln der Ball so
                                                                     lange im Spiel bleibt, bis die Entscheidung des Umpires,
                                                                     bei dem die Szene moniert wurde, ergangen ist“. Eine
                                                                     kluge Entscheidung: Spiel so lange weiter, bis der Schiri
                                                                     pfeift, sagt man heute. Wenn der Umpire nichts Regel-
                                                                     widriges gesehen hatte, rollte der Ball also weiter.

                                                                     Was aber, wenn sein Kollege mit dem Weiterspielen nicht
                                                                     einverstanden war, dem „Appeal“ stattgab und seine Fahne,
                                                                     die er zu diesem Zweck in der Hand hatte, hob? Dann
                                                                     wurde das Spiel per Zuruf doch unterbrochen, die Umpi-
                                                                     res mussten sich einigen oder den Referee um die Ent-
                                                                     scheidung bitten. Zeit verging, es war unklar, wie das Spiel
       Bis 1891 konnten die
       Umpires das Spiel                                             weitergehen würde, Unruhe entstand bei Spielern und
       mit dem Heben ihrer                                           Zuschauern. Das war bei der steigenden Bedeutung der
       Fahne unterbrechen.                                           Spiele nicht ungefährlich.

                        dem Spielfeld eingreifen. Es wird Anlass gegeben haben,   Stanley Rous beschreibt, dass der Referee deshalb immer
                        eine solche Bestimmung einzuführen.          öfter schon dann eingriff (ab 1878 mit einer Pfeife!), wenn
                                                                     einer der Umpires einem „Appeal“ stattgab und er selbst
                        Der Schiedsrichter konnte nun also auch ohne „Appell“   der gleichen Meinung war. Das machte eine möglicher-
                        an ihn Entscheidungen treffen, ein Trend, der sich fort-  weise nötige Einigung der Umpires oder ein Anrufen des
                        setzen wird, weil Handlungsbedarf entsteht.   Schiedsrichters überflüssig und beschleunigte das Spiel.
                        Denn Ende der 1870er und erst recht in den 1880er-Jah-  Man sieht: Es sind nicht nur die Regeln, die das Spiel
                        ren entdeckten Unternehmer den Fußball für sich. Er   bestimmen; es ist auch das Spiel, dass die Regeln bestimmt.
                        schien ihnen eine lukrative Einnahmequelle zu sein:  Ein-  Denn die sich ausweitende Praxis, dass der Schiedsrichter
                        trittsgelder, der An- und Verkauf von Spielern, Wettge-  sich früher einmischt, damit die Szene schneller entschie-
                        schäfte. Das Hauptziel des Spiels war nun, mit Siegen die   den wird, musste ja nur zu Ende gedacht werden. Inzwi-
                        Zuschauer zu begeistern und mit ihrer wachsenden Zahl   schen war von den vier britischen Verbänden im Juni 1886
                        die Einnahmen des Vereins und seiner Besitzer zu stei-  der International Football Association Board (IFAB) gegrün-
                        gern. Mit diesem Geld konnten wiederum bessere Spieler   det worden, noch heute – 134 Jahre später – das ent-
                        angeworben werden, die dem Verein zu noch mehr Sie-  scheidende Regelgremium des Fußballs, das einmal im
                        gen verhalfen und dadurch noch mehr Zuschauer anlock-  Jahr die Regeländerungen beschließt.
                        ten. Eine Wachstumsspirale entstand, die in England zur
       Englisches Pokalfinale   Billigung des Profifußballs (1885) und Einführung einer   Ab 1888 war das Thema Umpires und Schiedsrichter auf
       1890: Noch haben die   Liga für die besten englischen Vereine (1888) führte.   der jährlichen Agenda des IFAB. Zunächst wurden die
       Umpires ihre Bedeu-                                           Rechte des Schiedsrichters ausgebaut, er konnte, ohne
       tung und werden im
       Programmheft vor   Da ist es sicher nicht weit hergeholt, dass der immer inten-  von den Umpires angefragt worden zu sein, Freistöße ver-
       dem Schiedsrichter   sivere Wettbewerbscharakter die Spieler dazu verführte,   hängen oder auch gegen einen Umpire vorgehen, der sich
       genannt.                                                      erkennbar „seiner“ Mannschaft zugeneigt zeigte (1899,
                                                                     Regel 12).

                                                                     1891 passierte dann für sich gesehen Revolutionäres, das
                                                                     allerdings bei genauerer Betrachtung nur der Endpunkt
                                                                     einer Entwicklung war: Der Schiedsrichter, bisher fast aus-
                                                                     schließlich außerhalb des Spielfelds stationiert, rückte in
                                                                     die Mitte des Geschehens. Die Umpires verließen es und
                                                                     wurden zu Linienrichtern heruntergestuft, die nur noch
                                                                     anzeigende (Einwurf, Abstoß, Ecke), aber keine entschei-
                                                                     dende Funktion mehr hatten.

                                                                     Im Protokoll der IFAB-Sitzung, die am 2. Juni 1891 im vor-
                                                                     nehmen Alexandra Hotel in Glasgow stattfand, heißt es
                                                                     unter anderem: „Es wird ein Schiedsrichter ernannt, des-
                                                                     sen Aufgabe es ist, die Regeln durchzusetzen und alle
                                                                     strittigen Punkte zu entscheiden. Der Schiedsrichter ist
                                                                     befugt, einen Freistoß zu verhängen, ohne dass er dazu
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