Page 32 - DFB-Schiedsrichterzeitung
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sich in ungebührlicher Weise Vorteile zu verschaffen und
die Umpires hinters Licht zu führen.
Ein weiterer Aspekt ließ die Notwendigkeit deutlich wer-
den, dass das System des „Appeals“ reformiert werden
musste. 1875 wurde beschlossen, „dass im Falle eines
mutmaßlichen Verstoßes gegen die Regeln der Ball so
lange im Spiel bleibt, bis die Entscheidung des Umpires,
bei dem die Szene moniert wurde, ergangen ist“. Eine
kluge Entscheidung: Spiel so lange weiter, bis der Schiri
pfeift, sagt man heute. Wenn der Umpire nichts Regel-
widriges gesehen hatte, rollte der Ball also weiter.
Was aber, wenn sein Kollege mit dem Weiterspielen nicht
einverstanden war, dem „Appeal“ stattgab und seine Fahne,
die er zu diesem Zweck in der Hand hatte, hob? Dann
wurde das Spiel per Zuruf doch unterbrochen, die Umpi-
res mussten sich einigen oder den Referee um die Ent-
scheidung bitten. Zeit verging, es war unklar, wie das Spiel
Bis 1891 konnten die
Umpires das Spiel weitergehen würde, Unruhe entstand bei Spielern und
mit dem Heben ihrer Zuschauern. Das war bei der steigenden Bedeutung der
Fahne unterbrechen. Spiele nicht ungefährlich.
dem Spielfeld eingreifen. Es wird Anlass gegeben haben, Stanley Rous beschreibt, dass der Referee deshalb immer
eine solche Bestimmung einzuführen. öfter schon dann eingriff (ab 1878 mit einer Pfeife!), wenn
einer der Umpires einem „Appeal“ stattgab und er selbst
Der Schiedsrichter konnte nun also auch ohne „Appell“ der gleichen Meinung war. Das machte eine möglicher-
an ihn Entscheidungen treffen, ein Trend, der sich fort- weise nötige Einigung der Umpires oder ein Anrufen des
setzen wird, weil Handlungsbedarf entsteht. Schiedsrichters überflüssig und beschleunigte das Spiel.
Denn Ende der 1870er und erst recht in den 1880er-Jah- Man sieht: Es sind nicht nur die Regeln, die das Spiel
ren entdeckten Unternehmer den Fußball für sich. Er bestimmen; es ist auch das Spiel, dass die Regeln bestimmt.
schien ihnen eine lukrative Einnahmequelle zu sein: Ein- Denn die sich ausweitende Praxis, dass der Schiedsrichter
trittsgelder, der An- und Verkauf von Spielern, Wettge- sich früher einmischt, damit die Szene schneller entschie-
schäfte. Das Hauptziel des Spiels war nun, mit Siegen die den wird, musste ja nur zu Ende gedacht werden. Inzwi-
Zuschauer zu begeistern und mit ihrer wachsenden Zahl schen war von den vier britischen Verbänden im Juni 1886
die Einnahmen des Vereins und seiner Besitzer zu stei- der International Football Association Board (IFAB) gegrün-
gern. Mit diesem Geld konnten wiederum bessere Spieler det worden, noch heute – 134 Jahre später – das ent-
angeworben werden, die dem Verein zu noch mehr Sie- scheidende Regelgremium des Fußballs, das einmal im
gen verhalfen und dadurch noch mehr Zuschauer anlock- Jahr die Regeländerungen beschließt.
ten. Eine Wachstumsspirale entstand, die in England zur
Englisches Pokalfinale Billigung des Profifußballs (1885) und Einführung einer Ab 1888 war das Thema Umpires und Schiedsrichter auf
1890: Noch haben die Liga für die besten englischen Vereine (1888) führte. der jährlichen Agenda des IFAB. Zunächst wurden die
Umpires ihre Bedeu- Rechte des Schiedsrichters ausgebaut, er konnte, ohne
tung und werden im
Programmheft vor Da ist es sicher nicht weit hergeholt, dass der immer inten- von den Umpires angefragt worden zu sein, Freistöße ver-
dem Schiedsrichter sivere Wettbewerbscharakter die Spieler dazu verführte, hängen oder auch gegen einen Umpire vorgehen, der sich
genannt. erkennbar „seiner“ Mannschaft zugeneigt zeigte (1899,
Regel 12).
1891 passierte dann für sich gesehen Revolutionäres, das
allerdings bei genauerer Betrachtung nur der Endpunkt
einer Entwicklung war: Der Schiedsrichter, bisher fast aus-
schließlich außerhalb des Spielfelds stationiert, rückte in
die Mitte des Geschehens. Die Umpires verließen es und
wurden zu Linienrichtern heruntergestuft, die nur noch
anzeigende (Einwurf, Abstoß, Ecke), aber keine entschei-
dende Funktion mehr hatten.
Im Protokoll der IFAB-Sitzung, die am 2. Juni 1891 im vor-
nehmen Alexandra Hotel in Glasgow stattfand, heißt es
unter anderem: „Es wird ein Schiedsrichter ernannt, des-
sen Aufgabe es ist, die Regeln durchzusetzen und alle
strittigen Punkte zu entscheiden. Der Schiedsrichter ist
befugt, einen Freistoß zu verhängen, ohne dass er dazu