Page 15 - DFB-Schiedsrichterzeitung 04-2019
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hoch qualifizierte Experten im Schiedsrichter-Team, ‚Rettungsschirm‘, nicht zuletzt mit Blick auf das Abseits
deren Aufgabenbereiche und Kompetenzen um ein Viel- bei einer Torerzielung.“
faches größer sind als in früheren Jahren. Dass seine
Tätigkeit als Referee deshalb in der Regionalliga endete, Gleichwohl stelle es weiterhin eine große Herausforde-
war für Mark Borsch leicht zu verschmerzen: „So weit rung dar, bei knappen Abseitssituationen in Tornähe mit
wie als Assistent wäre ich als Schiedsrichter niemals dem Fahnenzeichen abzuwarten, bis der Angriff abge-
gekommen.“ schlossen sei, damit der Video-Assistent im Falle eines
Tores die Szene überprüfen könne. „Wir waren jahrzehn-
Das Amt des Schiedsrichter-Assistenten sei mit den Jah- telang so konditioniert, dass wir die Fahne heben, wenn
ren erheblich anspruchsvoller geworden, hält der Mön- wir ein strafbares Abseits wahrnehmen“, erklärt Borsch.
chengladbacher fest, der hauptberuflich als Kriminal- „Diesen Reflex nun zu unterdrücken, oft mehrere Sekun-
hauptkommissar arbeitet: „Das Spiel ist wesentlich den lang, ist extrem schwierig. Es gelingt trotz zahlrei-
schneller und athletischer geworden. Es gibt keine Ruhe- cher Übungsstunden und Trainingseinheiten nicht
phasen mehr für uns, auch dadurch, dass keine Pause immer. Und die Frage ist manchmal ja auch: Wann ist
entsteht, wenn der Ball auf die Tribüne fliegt, weil dann eine Abseitssituation knapp, wann ist sie klar, wann liegt
sofort mit einem anderen Ball weitergespielt wird.“ Man eine unmittelbare Torchance vor?“
müsse in jeder Sekunde der Partie hellwach sein und
der mentale Druck sei enorm, gerade in wichtigen Spie- Dessen ungeachtet ist die Trefferquote bei den Abseits-
len. „Damit muss man umgehen können.“ entscheidungen der Assistenten herausragend, bei Mark
Borsch liegt sie nahe der 100-Prozent-Marke. Wie schafft
Besonders beim Abseits seien die Anforderungen enorm man das, wo Abseitssituationen doch häufig komplex
gestiegen, auch infolge von Regeländerungen, sagt und fast immer sehr knapp sind? „Durch korrektes Stel-
Borsch: „Es gibt Situationen, die können wir als Assis- lungsspiel, eine gute Antizipation, jede Menge Erfah-
tenten gar nicht mehr alleine lösen. Wenn ich beispiels- rung – und ein sensibles Gehör“, antwortet Borsch. Selbst
weise eine Abseitsstellung wahrnehme, aber nicht ein- bei 80.000 lauten Zuschauern könne er den Moment
deutig erkennen konnte, von wem und auf welche Weise des Abspiels auch mit den Ohren erfassen, und dann
der Ball gespielt oder verlängert wurde, benötige ich sei es eminent wichtig, im richtigen Moment die Szene
die Information des Schiedsrichters über das Headset, im Kopf zu „fotografieren“. Unverzichtbar seien aber
um richtig reagieren zu können.“ Ohnehin sei die Kom- auch das Training sowie die Vor- und Nachbereitung:
munikation im Team das A und O, und dabei gebe es „Körperlich trainiere ich vor allem Sprints und Intervalle
große Unterschiede in der Herangehensweise der nach einem festen Plan, auch die Regeneration ist von
Schiedsrichter auf dem Feld: „Manche fordern einen Bedeutung. Außerdem arbeite ich viel mit der Schu-
nahezu ununterbrochenen Input von den Assistenten, lungsplattform der UEFA, auf der regelmäßig Videose-
andere wollen ihn nur auf Nachfrage und nur in wichti- quenzen zum Üben bereitgestellt werden.“
gen Situationen.“ Das erfordere eine große Flexibilität.
Darüber hinaus müsse man sich intensiv mit der Spiel-
Über die technischen Weiterentwicklungen im Fußball weise der Mannschaften beschäftigen, das helfe, unlieb-
ist Mark Borsch froh. „Das Funkfahnensystem und die same Überraschungen zu vermeiden. Borsch nennt ein
Headsets haben die Möglichkeiten der Kommunikation Beispiel: „Der FC Liverpool spielt den Ball oft in die
im Schiedsrichter-Team extrem verbessert und die Tor- Gasse, durch die Viererkette hindurch. In der Mitte befin-
linientechnologie bewahrt uns Assistenten vor Fehlent- det sich meist ein Stürmer im Abseits, aber der wird nicht
scheidungen bei der für uns – aufgrund des meist angespielt, sondern ein anderer. Dieser legt den Ball
ungünstigen Stellungsspiels – schwierigsten Situation dann quer in die Mitte, wo der ursprünglich im Abseits
‚Wembley-Tor‘“, sagt er. Auch die Einführung des Video- befindliche Angreifer nun hinter dem Ball ist. Wenn man
Assistenten begrüßt er ausdrücklich: „Er gibt uns einen das vorher weiß, ist man darauf eingestellt, und das ist
Stichwort:
Rückläufer-
abseits
Angreifer, die sich vom gegnerischen Tor
wegbewegen, ziehen immer eines ihrer bei-
den Beine hinter sich her. Die Abseitswahr-
scheinlichkeit bei diesem Richtungsverhal-
ten ist sehr groß.