Page 17 - DFB-Schiedsrichterzeitung 04-2019
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          Sekundenbruchteilen ablaufe, Restzweifel blieben, solle
          die Fahne nicht gehoben werden. Die obligatorische
          Videoanalyse nach dem Spiel zeige dann, ob das „Bauch-
          gefühl“ richtig justiert gewesen sei.
          Salver hält für die Schiedsrichter-Assistenten etliche
          weitere Praxistipps bereit, die er während seiner lang-
          jährigen nationalen wie internationalen Tätigkeit an der
          Seitenlinie gesammelt hat (siehe Kasten). Ein Ratschlag
          betrifft die unangenehme Situation, trotz aller Konzen-
          tration von einem Ereignis überrascht zu werden, bei-
          spielsweise, wenn wie aus dem Nichts ein Spieler alleine
          auf das Tor zuläuft. „Bei aufmerksamer Überwachung
          der Abseitslinie gilt in diesem Fall der Grundsatz: Taucht
          plötzlich ein Spieler auf, den man zuvor ‚nicht auf dem
          Radar hatte‘, dann kann dieser Spieler auch nicht im
          Abseits gestanden haben. Weiterspielen ist in diesem
          Fall die richtige Entscheidung.“
                                                                                                   Oliver Klostermann
          Als weiteren Leitsatz neben dem „wait & see“ gibt der   Assistenten sollten zu allem, was auf dem Feld geschieht,   (links) im Einsatz mit
          Headcoach die Losung aus: „Erwarte immer das Uner-  eine Meinung haben.“ Er selbst, sagt Klostermann, sei   Schiedsrichter Jens
          wartete.“ Der „No-Look-Pass“ etwa, den technisch starke   als Assistent „stets darauf gefasst, dass der Schiedsrich-  Laux und Matthias
                                                                                                   Dransfeld.
          Profis entgegen ihrer Körpersprache spielen könnten,   ter mich anschaut und eine Einschätzung von mir erwar-
          sei „nicht nur für die gegnerische Abwehr gefährlich,   tet, egal, wo das Spiel gerade läuft. Ich versuche immer,
          sondern auch für den Assistenten“. Häufig aber lasse sich   das Spiel so zu verfolgen, dass ich diese Einschätzung
          aus der Körperhaltung des ballführenden Spielers viel-  im Bedarfsfall liefern kann.“ Es gebe keine Ruhepausen
          fach schon frühzeitig der Passempfänger identifizieren.   mehr für die Assistenten, „auch dann nicht, wenn das
          Dadurch könne sich der Assistent auf die wesentliche   Spiel in der anderen Hälfte läuft“.
          Spielzone konzentrieren und andere Angreifer leichter
          ausblenden. Generell gilt für Salver die Devise, dass eine   Eine weitere Veränderung betreffe die Abseitsregel: „Als
          große Zahl von Fahnenzeichen nicht zwangsläufig auf   ich Schiedsrichter geworden bin, war ‚gleiche Höhe‘
          eine gute Assistenten-Leistung hindeutet. Eher sei das   noch Abseits“, erinnert sich Klostermann mit einem
          Gegenteil der Fall: „Wer viel winkt, winkt oft viel falsch.“  Schmunzeln. „Damals hat man im Zweifelsfall die Fahne
                                                      gehoben, heute lässt man sie im Zweifelsfall unten.“ Die
          E S  G I B T  K E INE  R U HE P H A S E N  ME HR  Auslegung beim Abseits sei komplexer geworden, die
                                                      Strafbarkeitsschwelle habe sich deutlich erhöht. Darauf
          Dass diese Wahrheit auch im Amateurbereich gilt, kann   hätten sich die Mannschaften auch im Amateurbereich
          Oliver Klostermann bestätigen. Der 47-jährige Duisbur-  eingestellt: „Viele erzeugen zum Beispiel im Angriff
          ger ist seit 1985 Schiedsrichter, hat früher Spiele bis zur   bewusst passive Abseitssituationen, um bei einer neuen
          NRW-Liga gepfiffen und war als Assistent in der Regio-  Spielsituation einen Positionsvorteil zu haben. Als Assis-
          nalliga unterwegs. Heute ist er als Referee noch in der   tent darf man sich davon nicht überraschen lassen.“ Die
          Bezirksliga aktiv und assistiert einem talentierten jun-  Kunst  sei  es,  „die  Ruhe  zu  bewahren  und genau  zu
          gen Kollegen in der Oberliga Niederrhein, außerdem   schauen, ob wirklich ein Spieleingriff vorliegt, bevor
          betreut er bei Spielen der Profimannschaft des MSV   man die Fahne hebt“. Die Tätigkeit des Assistenten sei
          Duisburg das jeweilige Schiedsrichter-Team.   heute schwieriger als früher, aber auch reizvoller.

          Aus langjähriger Erfahrung sagt er: „Der beste Assistent   Jungen Schiedsrichter-Assistenten gibt Oliver Kloster-
          ist nicht derjenige, der besonders viel oder besonders   mann mit auf den Weg, das Spiel „genauso ernst und
          wenig anzeigt, sondern derjenige, der situationsange-  konzentriert anzugehen wie als Unparteiischer“. Wichtig
          messen reagiert, also weiß, wann er die Fahne zu heben   sei es, seine Rolle im Team zu kennen und dazu beizu-
          hat und wann es besser ist, sie unten zu lassen.“ Als   tragen, „dass der Schiedsrichter gut aussieht“. Im Zwei-
          Assistent müsse man sich „auf die Linie des jeweiligen   felsfall müssten eigene Befindlichkeiten zurückstehen.
          Schiedsrichters sowie auf den Rhythmus und die Erfor-  Gleichzeitig gelte: „Seid mutig und bleibt es, auch wenn
          dernisse des Spiels einlassen, also flexibel sein“. Wenn   der Schiedsrichter euch mal herunterwinkt.“ Im Umgang
          die Partie hektisch sei, müssten die Fahnenzeichen   mit den Bänken empfiehlt Klostermann „Ruhe, Gelas-
          schneller kommen, bei einem ruhigen Spiel bleibe mehr   senheit und Menschlichkeit“. Eine freundliche Begrü-
          Zeit für sie.                               ßung und ein Handschlag könnten schon vor dem Spiel
                                                      ein positives Klima erzeugen. Und wer verständnisvoll
          In jedem Fall sei die Bedeutung des Schiedsrichter-  auftrete, erhalte in den meisten Fällen eine positive
          Assistenten auch im unterklassigen Fußball gestiegen:   Reaktion. Komme es trotzdem zu Konflikten, sei es wich-
          „Er ist längst ein vollwertiges Teammitglied, dessen   tig, „die Grenzen aufzuzeigen und trotzdem deeskalie-
          Aufgabe sich nicht mehr auf das Anzeigen von Abseits,   rend zu wirken“. So halte man als Assistent dem Referee
          Eckstoß, Einwurf beschränkt. Eine Spielleitung bedeu-  den Rücken frei. „Und das“, sagt Klostermann, „ist auch
          tet heute vor allem Teamarbeit, und das heißt auch: Die   mit Blick auf den Teamgedanken von größtem Wert.“
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