Page 19 - DFB-Schiedsrichterzeitung 06-2018
P. 19
19
erade junge Schiedsrichtertalente kennen diese Der Beobachter hatte es richtig erkannt: Der Schieds- TE X T
Situation: Bei jedem Einsatz will der Unparteii- richter war von Anfang an „genervt“ ins Spiel gegangen. Günther Thielking
G sche vom Beobachter die bestmögliche Punkt- Ist er möglicherweise ein Typ Mensch, der besonders
zahl bekommen und keinesfalls während der 90 Minu- schnell gestresst ist? Fehlt ihm noch die notwendige
ten einen Fehler begehen. Er träumt davon, gleich noch Erfahrung, um Stresssituationen zu meistern? Was hätte
einmal aufzusteigen, und ist kurz vor Saisonende im er tun können, um das Spiel gelassener anzugehen und
Ranking oben mit dabei, es fehlt nur noch die letzte vom Anpfiff an noch konzentrierter zu sein?
Beobachtung.
Solche Themen werden im aktuellen DFB-Lehrbrief
Schon die Nacht vor dem Spiel kann der Referee kaum Nr. 81 auf Grundlage einer PowerPoint-Präsentation
schlafen. Im Vorfeld hat er sich im Internet schlau- beantwortet. Dabei geht es darum, wie Schiedsrichter
gemacht: „Wer beobachtet mich im nächsten Spiel? Wie sogenannte Stressoren (Ursachen, die zum Stress füh-
stelle ich mich am besten auf den Beobachter ein? Nach ren) im Vorfeld reduzieren können. Die Verfasser gehen
den bisherigen guten Noten darf ich auf keinen Fall unter der Überschrift „Stressintelligenz als Mittel zur
einen Fehler machen! Ich muss das schaffen!“ Konfliktlösung“ auf die Problematik ein und machen
deutlich, welche Stressauslöser die Leistung der Schieds-
Am Spieltag wird morgens die Tasche gepackt. Den richter beeinflussen können und welche Möglichkeiten
Spielort kennt der Unparteiische zwar nicht, aber der wird es gibt, sie möglicherweise ganz zu vermeiden.
sich mit dem GPS schon finden lassen. Deshalb springt
er rasch ins Auto. Motor starten, Gang rein und ab. Zum Der Begriff „Stress“ wird definiert und die Teilnehmer
Glück sind die beiden Assistenten pünktlich. Eine knappe an den Lehrveranstaltungen müssen sich mit den Fra-
halbe Stunde vor Spielbeginn ist der Sportplatz erreicht gen beschäftigen: Wo erleben wir Stress im Alltag? Wel-
– nach kurzer Suche durch einige Straßen und vorbei an che Auswirkungen können die Stressoren auf unsere
mehreren Baustellen. Dort gibt es dann aber die nächs- Spielleitungen haben?
ten Probleme: Beide Teams wollen in der gleichen Tri-
kotfarbe spielen, Ausweichtrikots sind noch keine da Darüber hinaus weist die Präsentation darauf hin, wel-
und in beiden Tornetzen finden sich Löcher. Der junge che weitreichenden physischen und psychischen
Unparteiische flucht und ist wütend. gesundheitlichen Folgen eintreten können, wenn der
Faktor Stress nicht genügend beachtet wird. Kommt es
Und da kommt auch schon der erwartete Beobachter.
Der ist ausgeglichen, freundlich, ruhig und wünscht ein
gutes Spiel. Er bemerkt die Hektik sowie die angespannte
Stimmung des Unparteiischen und bleibt nur kurz in der
Kabine. „Na, wenigstens das läuft wie erwartet“, denkt
sich der Schiedsrichter. Das Team zieht sich schnell und
hektisch um und ruft die Mannschaften zum Einlaufen
heraus. Immerhin, die eben beschriebenen Probleme
konnten gerade noch rechtzeitig behoben werden, das
Spiel kann beginnen.
Während der Partie ist der Unparteiische einige Male
kurz in Gedanken: „Hoffentlich haben sie mich an der
letzten Kreuzung nicht geblitzt. 50 Stundenkilometer
waren erlaubt, ich hatte 70 drauf.“ Da kommt es zu zwei
kniffligen Abseitssituationen. Wieder flucht der Schieds-
richter in sich hinein: „Kann der Assistent nicht aufpassen?“
Plötzlich entsteht eine hektische Situation an der Straf-
raumgrenze, ein Angreifer fällt in den Strafraum, ein
Abwehrspieler steht daneben. Strafstoß? Schwalbe? Ein
ganz normaler Zweikampf? Im Strafraum oder draußen?
Die Spieler beider Teams protestieren. Der Schiedsrich-
ter verliert die Übersicht! Er war weitab vom Geschehen
und hofft nur: „Hoffentlich bewertet der Beobachter
draußen die Situation genauso wie ich.“
Die Auflösung gibt es erst nach dem Spiel während der
Analyse. Der Coach guckt dabei freundlich in die Runde:
„Zu Beginn hattest du einige Probleme, wirktest ganz
schön gestresst. Da ging das Spiel an dir vorbei. Was
war da mit dir los?“, kommt es nach ein paar einleiten-
den Worten. Nach dem Gespräch fragt sich der Schieds-
richter: „Wie konnte mir dieser Fehler im Spiel bloß pas- Vor allem wenn es auf dem Platz turbulent wird, muss der Schiedsrichter
sieren?“ den Kopf frei haben.