Page 15 - DFB-Schiedsrichterzeitung 01-2020
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              ür die Gala am 25. Oktober in Nürnberg hatte Collina
              viele Flugkilometer auf sich genommen, war er doch
         Ferst wenige Tage zuvor von seinem in der Toskana                      6
          gelegenen Wohnort Forte dei Marmi nach Brasilien aufge-
          brochen. Dort hatte er in seiner Funktion als Schiedsrichter-
          Chef der FIFA ein paar Tage als Delegationsleiter der Unpar-
          teiischen bei der U 17-WM verbracht, war dann für die
          Preisverleihung über Berlin in die fränkische Metropole   Zu seiner Zeit als aktiver Schiedsrichter wurde Pierluigi Collina
          geflogen und kehrte später zum Finale des Turniers wieder     sechsmal als „Welt-Schiedsrichter des Jahres“ ausgezeichnet –
          nach Südamerika zurück.                           so oft wie kein anderer Unparteiischer. Der Italiener leitete vier
                                                             bedeutende internationale Endspiele: Olympia 1996, Champions
          Der Walther-Bensemann-Preis geht auf den gleichnamigen   League 1999, Weltmeisterschaft 2002 und UEFA-Pokal 2004.
          Gründer des Fußballmagazins „kicker“ zurück. Die Deutsche
          Akademie für Fußball-Kultur ist eine Ansammlung bekann-
          ter Mitglieder aus Sport, Kultur, Medien, Wissenschaft, Poli-  nunft zu bringen, hat bei Pierluigi ein strenger Blick aus   TE X T
          tik und Gesellschaft, die nicht nur den Fußball an sich im   seinen ausdrucksstarken Augen ausgereicht, die durch seine   Thomas Roth
          Auge haben, sondern über den Tellerrand hinausschauen.  Haarlosigkeit noch größer wirkten, als sie ohnehin schon
                                                      waren.“ Im Laufe der Zeit erreichte Collina ein öffentliches
          Als Collina in Nürnberg die Bühne betrat, um seine Aus-  Ansehen wie noch kein anderer Referee vor ihm.
          zeichnung von Bärbel Schnell, der Leiterin des Olympia-
          Verlages, in dem der „kicker“ erscheint, entgegenzuneh-  Für die Mitglieder der Akademie war auch seine Mensch-
          men, fielen ihm zuerst seine hochkarätigen Vorgänger auf,   lichkeit als Unparteiischer ein Grund für die Auszeichnung.
          deren Konterfeis, auf langen Fahnen abgedruckt, zur Deko-  Holzschuh: „Es war beeindruckend, dass und wie Pierluigi
          ration an den Wänden hingen: „Es ist eine Ehre für mich,   die Bayern-Spieler auf dem Platz getröstet hat, nachdem
          Nachfolger eines Vicente del Bosque, Alex Ferguson, Mar-  sie 1999 im Finale der Champions League gegen Manches-
          cello Lippi, Alfredo di Stéfano oder Bernd Trautmann zu   ter United den schon sicher geglaubten Titel durch zwei
          sein. Und es freut mich, dass mein Nachfolger im kommen-  Gegentore in den allerletzten Minuten noch verloren hat-
          den Jahr nun auch einen Schiedsrichter unter den Preisträ-  ten.“ Auch ein Oliver Kahn erfuhr unmittelbar nach dem
          gern sehen wird.“                           Abpfiff des WM-Endspiels 2002 menschlichen Beistand
                                                      durch den gleichen Unparteiischen. Der Bayern-Keeper
          Collina nämlich ist der erste Vertreter dieser Gilde, den die   hatte mit außergewöhnlichen Leistungen im Turnierverlauf
          Akademie ausgezeichnet hat. Für Rainer Holzschuh war   Deutschland in diese Partie gegen Brasilien geführt – und
          klar, dass nur Collina infrage kam, der erste Unparteiische   ausgerechnet im Finale mit einem Fehler die Niederlage
          in der Reihe der Trainer, Funktionäre oder Spieler von Welt-  eingeleitet.
          ruf zu sein, die den Bensemann-Preis zuvor verliehen beka-
          men. „Ich habe von allen Seiten ausschließlich Zustimmung   War Collina schon zu seiner aktiven Zeit ein Freund akribi-
          für diese Wahl erfahren. Pierluigi Collina ist der berühm-  scher Spielvorbereitung durch technische Hilfsmittel, so
          teste Schiedsrichter aller Zeiten. Er galt über ein Jahrzehnt   ist er auch als Funktionär ein großer Förderer des Video-
          hinweg als der Weltbeste seiner Zunft, sodass er dank sei-  Assistenten, wie er in Nürnberg im Gespräch mit Modera-
          ner Persönlichkeit nach der aktiven Zeit erst zum Chef der   torin Katrin Müller-Hohenstein darlegte: „Er ist ein Instru-
          UEFA- und dann auch der FIFA-Schiedsrichterkommission   ment, das zu gerechteren Partien führt. Vorteilhaft für die
          ernannt wurde“, sagte der Herausgeber des „kicker“ in sei-  Spieler, denn es ist übel, wegen einer Fehlentscheidung zu
          ner Laudatio, um dann noch weiter ins Detail zu gehen: „Ein   verlieren. Vorteilhaft für den Referee, denn es wäre unge-
          Schiedsrichter braucht Charakterstärke, Gerechtigkeitssinn   recht, dass eine Entscheidung seine Zukunft beeinflusst,
          und Pflichtbewusstsein. Und immer wieder Einfühlungs-  die ein menschliches Auge unmöglich bewerten konnte.“
          vermögen, gepaart mit fußballerischem Fachwissen. Wenn
          er all diese Aspekte zu verbinden weiß, ist er prädestiniert   Pierluigi Collina – Ausnahme-Schiedsrichter, Star, Visionär,
          für höhere bis höchste Aufgaben. Collina ist dies in erstaun-  Mensch. Und ein verdienter Empfänger des Bensemann-
          licher Weise gelungen.“                     Preises 2019.

          Und so hat der mittlerweile 59-Jährige die Schiedsrichterei
          erst als Aktiver und dann als Funktionär auf ganz neue Ebe-  Die bisherigen Preisträger
          nen gehoben. Zugute kam ihm besonders in seiner Zeit an   Seit 2006 vergibt die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur den
          der Pfeife sein markantes Äußeres. Als Folge einer Stoff-
          wechselkrankheit hatte er mit 24 Jahren alle Haare am Kör-    Walther-Bensemann-Preis. In der Vergangenheit ging dieser an die
                                                                              folgenden Personen:
          per verloren. Machten sich die Verantwortlichen in Italien
          zunächst noch Gedanken, ob man einen Mann mit Glatze   2006: Franz Beckenbauer   2013: Günter Netzer
          überhaupt Spiele leiten lassen könne, so entwickelte sich   2007: Alfredo di Stéfano  2014: Ottmar Hitzfeld
          gerade diese später zum Karriere-Förderer und Markenzei-  2008: Bernd Trautmann  2015: Marcello Lippi
          chen.                                             2009: César Luis Menotti      2016: Sir Alex Ferguson
                                                              2010: Otto Rehhagel        2017: Vicente del Bosque
          Sein  langjähriger  internationaler  Wegbegleiter  Bernd   2011: Sir Bobby Charlton  2018: Horst Hrubesch
          Heynemann erinnert sich: „Wo ein anderer Schiedsrichter   2012: Uwe Seeler
          zur Gelben Karte greifen musste, um einen Spieler zur Ver-
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