Page 11 - DFB-Schiedsrichterzeitung
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               iner wie Lutz Wagner kann gut mit Menschen, das   entieren“, verkündet Wagner, „und Empfehlungen abge-  TE X T
               hat er nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern   ben, wo es kein Richtig und kein Falsch gibt.“   Alex Raack
         E auch außerhalb der Spielfeldbegrenzung oft genug
          unter Beweis gestellt.                      Damit ließe sich vermutlich auch vortrefflich die aktu-
                                                      elle Corona-Lage diskutieren, doch die Unparteiischen
          Doch in Zeiten von Corona, „Flatten the Curve“ und   belassen es bei dieser Trainingseinheit am Computer
          „Stay at Home“ steht auch der Routinier vor einer neuen   mit Zweikampfszenen. Parameter wolle man mit diesen
          Herausforderung. Normalerweise ruft der DFB-Lehrwart   Übungen schärfen, erklärt der Gastgeber, denn „für jede
          in regelmäßigen Abständen die Unparteiischen der Juni-  Entscheidung gibt es richtige Gründe.“ Einzige zentrale
          oren-Bundesligen an bundesweit vier Stützpunktorten   (und konkrete) Botschaft: „Wenn ich Zweifel habe, lasse
          zusammen, um dem Nachwuchs dort in Kleingruppen   ich weiterlaufen.“
          den Feinschliff zu verpassen, aktuelle Entwicklungen
          zu besprechen und ausgewählte Szenen zu diskutieren.
          Aber normal ist in diesen Tagen gar nichts, da der Fuß-  „Video-Konferenzen sind in der
          ball und mit ihm nahezu das komplette öffentliche Leben
          ruhen, um die Verbreitung des neuartigen Virus einzu-  Corona-Zeit die beste Lösung,
          dämmen.
                                                      die wir haben.“                           Lutz Wagner, DFB-Lehrwart
          Also haben sich Wagner und Kollegen für eine Maß-
          nahme entschieden, die Wagner selbst als „beste Lösung,
          die wir in der Corona-Zeit haben“, bezeichnet. Statt wie   Videos werden eingespielt, Schiedsrichter zu ihrer Mei-
          gewohnt an den unterschiedlichen Stützpunktorten in   nung gefragt. Bereits im Vorfeld hat jeder Teilnehmer
          einer überschaubaren Runde zu arbeiten, sind an die-  die Bewegtbilder zur Verfügung gestellt bekommen und
          sem Tag im April mehr als 50 Personen zu einer Video-  seine Meinung abgeben müssen. Hier und jetzt geht es
          Konferenz eingeladen. Punkt 14 Uhr schalten sich die   darum, in der gemeinsamen Diskussion der vollkommen
          Referees aus Kluftern, Wettenberg oder Treffurth zu,   richtigen Entscheidung zumindest so nahe wie möglich
          man sieht in Webcams blinzelnde Gesichter, Akten-  zu kommen.
          ordner oder kahle Wände im Hintergrund, ein paar damp-
          fende Kaffeetassen in den Händen.           Patrick Glaser vom FC Freudenberg steht zu seiner Gel-
                                                      ben Karte, die er nach einer rustikalen Grätsche im Spiel
          Wagner selbst trägt einen schwarzen Pullover, den man   zwischen Bayer Leverkusen und Atlético Madrid an den
          mit etwas Fantasie auch für ein Schiri-Jersey halten   Übeltäter verteilt hätte. Andere hätten sofort den Platz-
          könnte. Gerne hätte man erfahren, wie wohl das Arbeits-  verweis ausgesprochen. „In der Junioren-Bundesliga
          zimmer des Ausbilders aussieht, aber der schlaue Refe-  wohl auch vertretbar“, sagt Wagner, zeigt dann aber
          rent hat den Weichzeichner eingestellt, der Fokus liegt   noch einmal eine andere Perspektive – und wer ganz
          ganz bei ihm. Gemeinsam mit Jan-Hendrik Salver, dem   genau hinschaut, erkennt, dass die Grätsche nicht ganz
          Experten für den Bereich der Schiedsrichter-Assistenten,   so brutal war wie auf den ersten Blick angenommen.
          sowie mit Kevin Müller aus der DFB-Zentrale begrüßt   Gelbe Karte? Richtige Entscheidung.
          der Host seine Konferenz-Teilnehmer.
                                                      So geht es weiter in der „ersten Halbzeit“ dieser Fort-
          Bevor es richtig losgeht, bittet Wagner um eine Gedenk-  bildung. Hohe Beine, harte Grätschen, zweifelhafte Zwei-
          minute für Andreas Thiemann, das jüngst verstorbene   kampfführung und immer wieder der Versuch, den Teil-
          Mitglied des DFB-Schiedsrichterausschusses. Dessen   nehmern die unterschiedlichen Parameter bei ihrer
          spezieller Humor, seine „legendären Ansprachen bei   Entscheidungsfindung zu verdeutlichen. „Wenn wir
          Sitzungen und Tagungen“ (Wagner), seine Kompetenz   gemeinsam in einer Runde sitzen und ich den Jungs in
          und Intelligenz würden künftig fehlen.      die Gesichter sehen kann, dann reicht manchmal eine
                                                      gerunzelte Stirn, um die Diskussion voranzutreiben“,
          Kurz darauf startet die gut zweistündige Video-Schalte   wird Wagner nach der Konferenz erklären, „das war heute
          in die Zimmer der deutschen Nachwuchs-Referees: mit   natürlich nicht möglich.“
          der Nachfrage bei jedem Einzelnen, wie der Stand der
          Dinge ist. „Alles fit, Empfang ist gut, Grüße aus Bayern!“,   Deshalb hat dieses virtuelle Aufeinandertreffen durch-
          spricht Thomas Ernst vom Bayerischen Fußball-Verband,   aus eine gewisse Sterilität, die Wagner auch schon mal
          „guter Empfang und alles fit!“ auch bei Vincent Schöl-  ganz woanders erlebt hat. Am 26. Januar 2004 war er
          ler, Mark Heiker oder Jan Dennemärker. Nach 20 Minu-  Leiter des ersten „Geisterspiels“ im deutschen Profifuß-
          ten findet die lange Willkommens-Zeremonie ein Ende.  ball. Zwei Monate zuvor hatte Alemannia Aachen im
                                                      Spitzenspiel der 2. Bundesliga den 1. FC Nürnberg mit
          O R I E N T I E RE N  IM  G R AU B E RE I C H  1:0 besiegt. Weil FCN-Trainer Wolfgang Wolf von einem
                                                      Wurfgeschoss aus der Aachener Kurve getroffen wor-  Foto links:
          Ohne das erzwungene Homeoffice würden die Referees   den war, hatte der Club allerdings im Nachhinein Pro-  DFB-Lehrwart Lutz
          nun in kleinen Gruppen strittige Szenen durchgehen,   test eingelegt. Ohne Zuschauer wurde die Partie wie-  Wagner (oben links)
          so aber bekommen alle von Kevin Müller kurze Video-  derholt, eine Erinnerung, die für Wagner heute aktueller   veranstaltete mit den
          Sequenzen aus den vergangenen Monaten vorgespielt,   denn je ist. Er befand damals nach Schlusspfiff: „So ein   Schiedsrichtern der
                                                                                                   Junioren-Bundesligen
          Daumendrücken allerorts, dass die Internetverbindung   Spiel braucht kein Mensch. In der Halbzeit schrieb mir   erstmalig eine Video-
          auch wirklich hält. „Wir wollen uns im Graubereich ori-  ein Bekannter eine SMS: ‚Lutz, man hört jedes Wort!‘   Konferenz.
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