Page 22 - DFB-Schiedsrichterzeitung 01-2019
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D FB -S C H I E D S R I C H T E R -Z E I T U N G 01 | 2 019
6A 6B
6a_Knapper, als man
glaubt: Die TV-Linie
berücksichtigt den
6 Oberkörper des
nach rechts geneigten
Nürnbergers nicht
genügend.
6b_Die Fahne kommt zu
früh, die Aktion ist noch
nicht abgeschlossen.
http://bit.ly/SRZ_191206
Fritz löst die Szene auf, indem er auf den Leipziger Spie- kann. Das ersparte viele „Fahnen“ und Spielunterbre-
ler, der inzwischen mit dem Ball an der Eckfahne steht, chungen.
zugeht. Der ahnt schon, was kommt, lässt den Ball lie-
gen und geht dem Schiedsrichter entgegen. Dann bejaht Übertrieben wurde es dann beim Confederations Cup
Werner die Frage, ob er den Ball als Letzter berührt hat 2005 in Deutschland, als die Fahne nach einer FIFA-
(Foto 5b). Und Fritz gesteht seinen Irrtum ein, indem er Anweisung nur gehoben werden durfte, wenn der Spie-
nun auf Abstoß vom Düsseldorfer Tor entscheidet. ler im Abseits den Ball berührte. Das führte zu kuriosen
Szenen, in denen ein Spieler 30, 40 Meter dem Ball
Nun soll man ja nicht bei jeder zweifelhaften Entschei- nachjagte, ihn kurz vor der Außenlinie erreichte – und
dung den Spieler befragen, das führt nur zum unmittel- dann 40 Meter hinter ihm die Fahne gehoben wurde.
baren Autoritätsverlust und zu Nervereien: „Schiri, jetzt Der Spieler war sauer, sein Gegner, der sicherheitshal-
müssen sie den aber auch mal befragen!“ Aus einem ber hinterherrannte, auch. Trainer und Mitspieler stöhn-
Spiel eine Talkshow zu machen, ist nicht im Sinn des ten, die Zuschauer amüsierten sich. Das wurde schnell
Regelwerks und des Fußballs überhaupt. wieder abgeschafft.
Also darf man dieses Mittel nur sehr sparsam einsetzen. Heute ist es eher eine Mischform, bei der immer wieder
Je mehr Erfahrung man hat, desto genauer kann man versucht wird, die Grauzone, die die Frage „strafbarer
die Wahrscheinlichkeit einschätzen, sich geirrt zu haben. Eingriff ins Spiel oder nicht?“ umgibt, so schmal wie
Sensibel zu sein für die Echtheit eines Protests und zu möglich zu machen. Allerdings gibt es seit Einführung
erkennen, wann aus einem nicht aufgeklärten mögli- des Video-Assistenten auch beim „Eingreifen“ des Assis-
chen Irrtum eine Torgefahr entsteht – wie in diesem Fall tenten an der Linie einen Unterschied zwischen der Bun-
durch den Eckball für Leipzig –, sind weitere wichtige desliga und den übrigen Spielklassen.
Voraussetzungen für das Verhalten in solchen Situatio-
nen. Und damit sind wir endlich bei unserer letzten Spiel-
szene. Nach einer schönen Kombination erhält der Düs-
6 1. FC Nürnberg – Fortuna Düsseldorf (6. Spieltag) seldorfer Angreifer Marvin Ducksch den Ball und schießt
Um im Abseits zu stehen, muss man sich im Moment ihn zwei Sekunden nach dem Abspiel ins Tor. Was in der
der Ballberührung eines Mitspielers vor dem Ball befin- Normalgeschwindigkeit recht klar aussieht, wird bei
den und nur noch einen Abwehrspieler vor sich haben. Erstellung des Standbilds doch eher knapp (Foto 6a).
Das gilt schon seit 1925.
Der Assistent hat zwar das Abseits erkannt, zeigt es an
Veränderungen gibt es allerdings immer mal wieder, (Foto 6b) und hätte sich damit in jeder anderen Spiel-
wenn es darum geht, wann dieses Abseitsstehen straf- klasse richtig verhalten. In der Bundesliga soll er mit
bar ist. Und wann der Assistent bei einer aus seiner Sicht seinem Fahnenzeichen jedoch so lange warten, bis die
strafbaren Abseitsstellung die Fahne hebt. Es gab Zei- Spielszene abgeschlossen ist. Warum? Wenn der Schieds-
ten, die Älteren werden sich erinnern, da ging die Fahne richter das Spiel wegen der Fahne unterbricht, bevor der
schon hoch, wenn der Ball nur ungefähr in die Richtung Ball im Tor ist, und bei der Überprüfung stellt sich her-
eines Angreifers im Abseits ging – und zwar sofort. Den aus, der Assistent hat sich geirrt, kann das Tor nicht aner-
Jüngeren sei gesagt, das war noch Mitte der 80er-Jahre kannt werden – Fehler hin, Fehler her. Wartet er lange
so. Dadurch, dass manche Mannschaften das Abseits- genug mit seinem Zeichen, gilt der Treffer.
stellen des Gegners fast perfektionierten, gab es sehr
viele Spielunterbrechungen. Deswegen kann man als sachkundiger Schiedsrichter
allen Nörglern („warum hebt der nicht gleich die Fahne?“)
Kluge Regelexperten führten dann das Prinzip des „wait mitteilen: Es kann aus gutem Grund mittlerweile etwas
and see“ für die Linienrichter ein. Erst mal schauen, ob länger dauern, bis ein Bundesliga-Assistent eine aus sei-
der Abseitsstehende auch wirklich den Ball bekommt ner Sicht strafbare Abseitsstellung anzeigt.
oder anders ins Spiel eingreift („einen Gegner beein-
flusst“, was natürlich ein weiter Begriff war). Oder ob Wäre doch auch schade, wenn korrekt erzielte Tore aber-
nicht die Abwehr den Ball erhält und in Ruhe aufbauen kannt werden müssten.