Page 23 - DFB-Schiedsrichterzeitung 02-2021
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Heute ist es Pflicht, erst mal zu schauen, was passiert,
und danach seine Erkenntnis per Fahnenzeichen und
Zuruf über das Headset dem Schiedsrichter mitzuteilen.
Das Angenehme für die Unparteiischen dabei: Sollte aus
dieser Situation ein Tor gefallen sein, überprüft der Video
Assistant Referee (VAR) den Wahrheitsgehalt der Ent-
scheidung. Ob die dabei benutzten kalibrierten Linien,
die auch ein „Kniescheiben-Abseits“ – mit diesem Kör-
perteil kann man schließlich ein Tor erzielen – ausfindig
machen können, noch dem Geist der Regeln und dem
Zweck des Spiels (Tore erzielen!) dienen, wird mancher-
orts diskutiert, ist aber nicht Gegenstand dieses Artikels.
Zumal von diesen technologischen Einflüssen nur ein
ganz geringer, allerdings ziemlich öffentlichkeitswirk-
samer Teil des Fußballsports betroffen ist, man könnte
ihn als „VAR-Fußball“ bezeichnen.
Mindestens 99 Prozent aller Spiele auf der Welt laufen
dagegen ohne einen Video-Assistenten ab, in ihnen
müssen der Schiedsrichter und – so vorhanden – seine Aus dem „Referee's
Assistenten nach wie vor ohne technische Hilfe, statt- Chart“ der FA
dessen mit ihrem entsprechend geschulten Blick erken- von 1913: A1 ist
nen, ob ein Spieler sich a) im Abseits befindet und im Abseits, da er
b) diese Position strafbar nutzt. im Moment der
Ballabgabe nur zwei
Gegenspieler vor
„ LINE SMEN“ UNTERS TÜT ZEN DEN REFEREE sich hat.
Diese Methode der Entscheidungsfindung („nach das Nachvollziehen dessen, was sich schon länger auf
Ansicht des Schiedsrichters“) ist die Grundlage unse- den Fußballplätzen eingebürgert hatte.
res Spiels, seitdem im Jahr 1891 im englischen Fußball
der „Referee“ als alleiniger Entscheider auf den Platz Ein Vorgang, der sich immer mal wieder vollzog und
gestellt wurde. Bis dahin hatten zunächst die Kapitäne vollzieht: Die Regeln beeinflussen natürlich das Spiel,
beider Mannschaften jeweils die Regelverstöße ihrer aber das Spiel beeinflusst auch die Regeln.
eigenen (!) Mannschaft angezeigt und sanktioniert, spä-
ter wurde von jedem Team ein „Umpire“ benannt. Wenn Vor allem das Anzeigen von Abseitspositionen machte
diese beiden Herren sich auf dem Spielfeld nicht eini- die Spiele zweifellos gerechter, denn der Schiedsrichter,
gen konnten – und diese Fälle nahmen zu, je weiter sich der immer noch eher als Funktionär denn als Sportler
der Fußball vom Grundgedanken eines reinen gesehen wurde und sich auch selbst so sah, war dem
„Gentlemen“-Sports (Fair Play!) entfernte –, wandten sie zunehmenden Tempo des Spiels immer weniger gewach-
sich an einen Unparteiischen, der sich außerhalb des sen, sodass vor allem seine Abseitsentscheidungen zwar
Spielfelds befand und entweder dem einen oder dem meist respektiert, aber oft nicht geglaubt wurden.
anderen Umpire zustimmte.
Womit wir beim Abseits wären, dessen Sinn und Zweck
Das war der schon erwähnte „Referee“ (to refer to = sich in der Regel 11 dargelegt wird. Dreieinhalb Seiten Text
an jemanden wenden), der dann 1891 mit den Umpires im aktuellen Regelheft und 14 anschauliche Diagramme
die Position tauschte, weil es immer häufiger zu Spiel- sollen allen am Fußball Beteiligten heute erläutern, wann
verzögerungen durch unterschiedliche Einschätzungen die Abseitsstellung eines Spielers oder einer Spielerin
der Umpires kam. Sie neigten gern ihrer Mannschaft zu, strafbar ist und wann eben nicht. Eine Ausführlichkeit,
sodass das Verlangen nach einer allein entscheidenden die sicher der Bedeutung dieser Regel entspricht.
Instanz stetig größer wurde. Die Umpires wurden an die
Seitenlinien verbannt. Sie fungierten dort zunächst so Dabei tauchte das Wort „Offside“ im ersten Regelwerk
etwa wie heute die nicht neutralen Vereins-Linienrichter. der 1863 von elf Vereinen und Schulen in London
gegründeten Football Association (FA) gar nicht auf!
Als man auf der Insel dazu überging, in wichtigen Liga-
und Pokalspielen neben dem Schiedsrichter auch die Denn es war noch grundsätzlich verboten, den Ball nach
Linienrichter aus neutralen Klubs zu besetzen, wuchs vorne zu spielen – eine Tatsache, die sich für uns heute
der Aufgabenbereich der „Linesmen“. 1877 wurde auf sehr schräg anhört. Zudem durfte sich niemand vor dem
Vorschlag des Clydesdale FC in die Regeln der engli- Ball befinden. Die „Taktik“ bestand aus dem Dribbling
schen Football Association (FA) aufgenommen, dass des vordersten Angreifers. Die übrigen waren so hinter
Umpires neben dem Anzeigen von Tor- und Seitenaus ihm angeordnet, dass sie den verlorenen Ball möglichst
auch Handspiel, Foulspiel und Vergehen gegen die schnell zurückerobern konnten oder dass dieser Angrei-
Abseitsbestimmung anzeigen sollten. Allerdings war fer einen von ihnen mit einem Rückpass anspielte, der
diese Regel-Einfügung zu diesem Zeitpunkt lediglich dann seinerseits versuchte, dribbelnd an den Gegnern