Page 24 - DFB-Schiedsrichterzeitung 02-2021
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Der Spielcharakter änderte sich entsprechend, die Angrei-
fer brauchten nun nicht mehr darauf zu achten, dass sich
keiner von ihnen vor dem Ball befand. Allerdings war diese
neue Freiheit per Definition dadurch eingeschränkt, dass
sie nicht ins Spiel eingreifen durften, wenn sich drei oder
weniger Gegner zwischen ihnen und der Torlinie befan-
den. Das wiederum brachte die Abwehrspieler im Laufe
der Zeit auf die Idee, diese Situation absichtlich herzu-
stellen.
Wer kein Tor kassiert, kann nicht verlieren – dieser Gedanke
setzte sich Anfang der 1920er-Jahre im schon weitgehend
kommerzialisierten britischen Fußball durch. Trainer und
taktisch begabte Spieler suchten auch im Regelwerk nach
Möglichkeiten, das Defensivspiel zu forcieren. Sie blieben
an der Abseitsregel hängen. Ihre Überlegung: Wenn es
der drittletzte Abwehrspieler geschickt anstellt, stellt
dieser den vordersten Angreifer mit zwei, drei schnellen
Schritten ins Abseits.
Billy McCracken
im Trikot von Hilfreich war dabei die damalige, noch lange geübte
Newcastle United.
Der überragende Angriffspraxis: „Kick and rush“ hieß die Devise, mit langen
Abwehrspieler seiner Schlägen aus der Abwehr sollte der „center forward“, der
Zeit entwickelte Mittelstürmer, in Szene gesetzt werden. Wenn also eine
Anfang der 1920er- Mannschaft den Ball erobert hatte und zum „Kick“ ansetzte,
Jahre die Abseitsfalle rückte der drittletzte Abwehrspieler flugs nach vorn. Schon
zur Perfektion. Beliebt „gleiche Höhe“ war abseits, denn der Abwehrspieler befand
machte er sich damit
allerdings nur bei den sich dann ja nicht wie verlangt zwischen dem Angreifer
Fans seines Klubs. und der Torlinie, sondern neben dem Stürmer.
vorbeizukommen. Man kann sich vorstellen, dass diese Wenn es mal nicht funktionierte, vielleicht auch, weil
Spielweise auf Dauer nicht besonders attraktiv war. es Schieds- und Linienrichter zu Recht oder zu Unrecht
anders sahen, waren ja noch ein weiterer Verteidiger
Andere waren da schon weiter, zum Beispiel die Public und selbstverständlich der Torwart da, die beide Unheil
Schools von Charterhouse und Westminster. Sie hatten verhindern konnten.
bei der FA-Gründung nicht mitgemacht, weil sie sich
mit ihrer Offside-Regel nicht durchsetzen konnten: „Ein A B S E I T S FA LLE S O RG T F Ü R T O R A RM U T
Spieler befindet sich abseits seines Teams (off his side),
wenn nur drei oder weniger Spieler des Gegners zwi- Der Ire Billy McCracken, beim englischen Klub New-
schen ihm und dem gegnerischen Tor sind. Ein abseits- castle United unter Vertrag, wird in der entsprechenden
stehender Spieler darf den Ball nicht stoppen oder spie- Literatur als derjenige Abwehrstratege herausgestellt,
len, bis dieser von einem Gegner gespielt oder sonstwie der die Abseitsfalle zur Perfektion brachte – und damit
berührt worden ist.“ die Attraktivität des Spiels gewaltig beschädigte. In sei-
nem äußerst lesenswerten Buch „Abseits: Das letzte
Das hört sich für uns doch schon recht vertraut an. Geheimnis des Fußballs“ schreibt der Literaturwissen-
schaftler Prof. Dr. Rainer Moritz: „Bis zu 40 Abseitspfiffe
Drei Jahre nach ihrer Gründung änderte die FA die Abseits- (heute sechs bis zehn) wurden seinerzeit pro Spiel regis-
regel im Sinne von Charterhouse und Westminster, die triert: Langeweile breitete sich aus.“
daraufhin der Football Association beitraten. Hauptgrund
war die Einsicht, dass sich nun ein Angreifer vor dem Ball Zunehmend spielten immer mehr Mannschaften so, es
befinden und vor allem angespielt werden durfte. Das fielen weniger Tore, es kamen weniger Zuschauer – es
Kombinationsspiel entwickelte sich, man war nicht mehr musste etwas geschehen. Gefragt waren deshalb die
darauf angewiesen, möglichst viele sehr gute Dribbler Regelhüter des IFAB. Die Herren aus England, Schott-
im Team zu haben, sondern auch Spieler, die einen sau- land, Nordirland und Wales sowie der FIFA mussten bei
beren Pass beherrschten und so das Spiel vielseitiger ihren alljährlichen Meetings, damals immer im Juni, ein
und für die Abwehr unberechenbarer machten. Rezept gegen die Torarmut entwickeln.
Zu behaupten, dass diese Änderung, die in diesem Wort- Dass dieses Mittel etwas mit der Abseitsregel zu tun
laut fast 50 Jahre Bestand hatte, das Fußballspiel revo- haben müsste, war wohl allen klar, aber ebenso bekannt
lutionierte, ist sicher nicht zu hoch gegriffen. Denn das war auch, wie konservativ das IFAB eingestellt war. In
blitzschnelle Kombinationsspiel heutigen Zuschnitts, den Protokollen der jährlichen Treffen lässt sich schön
gekrönt vom gut getimten Pass in den freien Raum nachlesen, wie wenig in jenen Jahren am Regelwerk
(„durch die Schnittstelle der Abwehr“), wäre sonst nicht geändert wurde – vor allem im Vergleich zu heute – und
möglich gewesen. wie häufig Vorschläge keine Mehrheit fanden.