Page 24 - DFB-Schiedsrichterzeitung 01-2020
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D F B-S CH I E DS R I CH T E R -Z E IT U N G 01 | 2 0 21
3A
3a_Mats Hummels köpft den Ball
3 auf das gegnerische Tor.
3b_Der abseits stehende Angreifer
befindet sich dabei nicht in der
Sichtlinie des Torwarts auf den Ball. 3B
https://bit.ly/SZ-01-21_Szene-03
bezieht. Ob eine solche Abseitsposition allerdings tat- strafbar machen würde? Oder hat er abgewartet und
sächlich strafbar ist, hängt am Ende eben – wie gerade ist erst nach einem „schlechten Ballspielen“ des Ver-
erläutert – noch von einigen weiteren Faktoren ab. teidigers an den Ball gekommen, wie es in den beiden
beschriebenen Situationen der Fall war? Dann nämlich
2 FC Bayern München II – 1. FC Kaiserslautern ist die Entscheidung Weiterspielen korrekt.
(3. Liga, 5. Spieltag)
Vergleichbar zur ersten Szene ist eine weitere aus dem 3 Borussia Dortmund – FC Schalke 04 (5. Spieltag)
Drittliga-Spiel zwischen dem FC Bayern München II und Ein weiterer Fachbegriff im Zusammenhang mit der
dem 1. FC Kaiserslautern: Als der Lauterer Angreifer Moha- Abseitsbewertung ist die sogenannte „line of vision“:
med Morabet (Foto 2a, linker Bildrand) angespielt wird, Hat man in der Vergangenheit bei Abseitssituationen
befindet er sich einige Meter im Abseits. Während der analysiert, ob sich ein abseits stehender Stürmer beim
Ball in der Luft ist, muss das Schiedsrichter-Team auch Torschuss im „Sichtfeld“ des Torhüters befand, legt
in dieser Szene bewerten, ob der Angreifer ins Spiel ein- die wörtliche Übersetzung des englischen Fachbegriffs
greift, ob er den Verteidiger „eindeutig“ unter Druck setzt. nahe, stattdessen von einer „Sichtlinie“ zu sprechen.
Der Angreifer ist sich als Rückläufer seiner klaren Abseits- Als Beispiel, dies zu verdeutlichen, dient eine Szene
position voll bewusst, entsprechend richtet er sein Ver- aus dem Revierderby zwischen Dortmund und Schalke:
halten aus. Er wartet zunächst das absichtliche Spielen Nach einem Eckball setzt sich der Dortmunder Mats
des Verteidigers ab und bleibt so lange noch auf Dis- Hummels im Luftduell durch und köpft den Ball aus
tanz zu seinem Gegenspieler. Das Bewegungsmuster einer Entfernung von rund sieben Metern auf das geg-
des Angreifers hat einen abwartenden Charakter. Er läuft nerische Tor (Foto 3a). Im Moment des Kopfballs steht
zwar parallel zum Verteidiger mit, aber erst nach dem der Dortmunder Thomas Delanay in einer Abseitsposi-
missglückten, aber dennoch absichtlichen Kopfball- tion. Er steht weniger als einen Meter seitlich vor dem
Versuch des Verteidigers (Foto 2b) beginnt die Aktivi- Schalker Keeper Frederik Rönnow – und damit definitiv
tät des Angreifers in Richtung Ball. in dessen „Sichtfeld“.
Als der Assistent an der Seitenlinie in diesem Moment Betrachtet man den Moment des Kopfballs aus der Kame-
nun die Fahne hebt, agiert der Schiedsrichter genau raperspektive hinter dem Tor (Foto 3b), wird jedoch deut-
richtig, indem er das Spiel dennoch weiterlaufen lässt. lich, dass sich der abseits stehende Stürmer zu keinem
Denn durch das Spielen des Balles durch den Vertei- Moment in der „Sichtlinie“ des Torhüters auf den Ball
diger ist eine neue Spielsituation entstanden und die befindet – der Keeper hat die ganze Zeit freie Sicht auf
zuvor bestehende Abseitsstellung des Angreifers wird den Ball. Zwar steht der Angreifer sehr nah am Torwart,
aufgehoben, er darf nun wieder mitspielen. aber er zeigt keinerlei Reaktion oder Bewegung in Rich-
tung Gegner oder Ball. Insofern sind die Entscheidung
Bei der Schulung von Schiedsrichtern und Assistenten Weiterspielen und die Anerkennung des Tores korrekt.
werden bei der Bewertung solcher Abseitssituationen oft
die Begriffe „obvious action“ oder „bad play“ verwendet: Eine Überlegung könnte bei dieser Szene vielleicht noch
Hat der Angreifer eine „eindeutige Aktion“ in Richtung sein, ob der abseits stehende Delanay einen Einfluss auf
Ball oder Gegner gemacht, was seine Abseitsstellung den Schalker Verteidiger Omar Mascarell hat. Mit diesem